PRESSE

Bröckelnde Gemäuer

 

 

Bäume kann man nicht bauen. Freundschaft kann man nicht herstellen. Sie wächst einem zu. Manchmal, im günstigsten Fall, fällt sie einem zu.

Vor ein paar Jahren hockten Florian Günther und ich in Leipzig auf einem Sofa in der Küche einer Kunstgalerie. Wir sollten zusammen vorlesen, wir tranken Bier, um uns auf den Zirkus vorzubereiten, die ersten Leute trudelten ein, das Getriebe im Flur nahm zu, Florian und ich hatten uns zuvor nie gesehen.

Der fabelhafte Kapielski saß am Tisch, er sollte ebenfalls vorlesen, zusammen mit uns, wir tranken, wir quatschten, und irgendwann sagte Florian, er habe neulich ein Buch gelesen, das ihn niedergestreckt habe, Peter O. Chotjewitz’ Lebenserinnerungen Mit Jünger ein’ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß, das Ding sei großartig.

„Freut mich“, sagte ich. „Das hab’ ich aufgeschrieben.“

„Watt?!“ rief Florian aus. „Du bist dett?“

Florian fiel auf dem Sofa, auf dem Goebbels nicht gesessen und auf dem weder Pit Chotjewitz noch Ernst Jünger einen Joint geraucht hatte, über mich her, das heißt, er umarmte mich, drückte mich fest, dankte mir in einer gewissen Fassungslosigkeit, und das war’s mit der Freundschaft, also: Da war sie, die Freundschaft, besiegelt, und das ist so eine Art Bund, im Sinne von Verbundenheit (nicht dieser Stefan-George-Scheiß), ein Bund, der mir unzerstörbar scheint, ich hoffe, ich gehe nicht fehl.

Das Gegenbild der Freundschaft, die Brecht für eine politische Kategorie hielt (er meinte natürlich die Freundlichkeit, Freundschaft kannte er wohl nicht), ist die Zerstörung, die Gewalt, der Auslöschungstrieb, die drecksworteumrankte Feier des Freudschen Thanatos. Wir erleben die Wiederauferstehung des Vernichtungswillens und des allseitigen Kriegsgegurgels, des Regierungsterrorismus unter den grünen Psychopathen Göring, Trittin, Lang, Baerbock, Habeck, Herrenhofreiter, unter diesem Abhub des allerbildungsfernsten Geschmeißes. Sie plärren „Werte!“, und sie meinen Waffen, sie meinen die Enteignung des kleinen Mannes, sie meinen die Aufhetzung aller gegen alle im Zeichen des, hessisch gesprochen, Unnerum, für das sich immer nur zwei zu interessieren haben, der Staat hat sich ums Unnerum nicht zu scheren, er hat in den Unterhosen nichts verloren.

Florian Günther hat einen neuen Band mit Gedichten veröffentlicht, betitelt Falsche Hoffnungen (Berlin 2022). Ich mußte der schönen Frau am Telephon mit einer Watschen drohen, damit sie ihn mir ins fränkische Familienexil nachschickt. „Das Buch ist so unglaublich schön“, sagte sie, „das will ich nicht hergeben.“

Warum sagte sie das? Vielleicht deswegen: „Sie nannten ihn / so, weil er / aus dem Osten kam und / Arbeit suchte. // Das, was er / fand, war schlecht / bezahlt. // Sogar die / Nachkommen der / Gastarbeiter kriegten / mehr.“

Das „mehr“ ward mit Bedacht in eine eigene Zeile gesetzt. Nur so tritt die Banalität der zombiefizierten Klassengesellschaft hervor, die eben keinesfalls „komplex“ ist, sondern schäbig. Nie war die Wirklichkeit platter, unmusischer, besinnungsloser als heute, und „Gastarbeiter kriegten mehr“ drückte das nicht aus, „Gastarbeiter kriegten / mehr“ tut es indes sehr exakt.

Man substituiere „Fleiß“ durch „Geld“ und „Glück“ durch „Macht“, und man hat mit dem Gedicht „Schnäppchen“ (über die televisionäre Inszenierung royalistischer Aufmärsche) alles beieinander: „Was wir glauben / sollen, ist: Die sind wie wir, / nur mit mehr Fleiß und / Glück.“

Das Wort „Glück“ steht wieder – allein. Glück habe etwas mit der Lücke zu tun, merkte mal ein Philosoph an, und durch die rhythmisiert, behutsam gebrochenen, die Betrachtungsperspektiven nonchalant wechselnden Strophen von Florians ergreifend, ja nagend humanen Erzählgedichten, die stets Lückentexte sind, streicht ein Hauch von einem anderen Planeten, auf dem eine Spezies walten möge, die der Liebe fähig wäre. Womöglich findet sich auf jenem Gestirn dann ein mit russischem Gas beheiztes Haus, in dem man sich alternierend ein paar Zeilen vorliest, die Brecht in seinen besten Stunden nicht hinbrachte: „Anni, dieses Gedicht / ist für dich, und / ich werde es / veröffentlichen, / auch wenn es seine Schwächen / hat. Denn Menschen wie / du sind selten. / Man sieht sie bei der Tafel, / in Kranken- und / Armenhäusern und auch / in Gefängnissen. / Aber man sieht sie nicht oft, / und wir sind alt geworden, du und ich, / und der Kaktus, den du / mir zu meinem letzten Geburtstag / geschenkt hast, steht da / drüben auf dem Fensterbrett und sieht mich / voller Sorge an; voller Angst / und voller Liebe.“

Die meisten Menschen unterschätzen, wieviel Zeit ein Dichter aufs Herumsitzen verwenden muß. Das Verhältnis zwischen Schreiben und Warten liegt durchschnittlich bei 1:30. Und das Trinken hilft, die Gelegenheit, den Gedanken, die Formulierung anzulocken, ohne Suff gäbe es bloß Günter Grass. Gerhard Polt hat das in seinem Monolog „Der Gedanke“ unübertrefflich beschrieben. Da spricht allerdings kein Silbenbauer, sondern ein Mitarbeiter irgendeiner kreuzüberflüssigen Firma, aber weshalb sollte ein erniedrigter Angestellter geistesschwächer als ein Poet sein? Ich kenne in meinem engsten Frankfurter Umfeld unzählige sprachlich Hochbegabte, die allesamt Handwerker oder Rentner oder Junkies und jedenfalls keine Staatssekretäre und grüne Bundestagsabgeordnete, Parteivorsitzende und sonstige Steuergeldinsichhineinschaufler sind.

Florians Gedichte sind zart, zum Weinen weich und einfühlsam, sie sind hart, genau, frei von jedem Anflug von Schwulst und Schwall, frei von dem vom bürgerlichen Feuilleton gepriesenen Kitsch, knapp an der Grenze zum Wahnsinn komponiert, Zeugnisse der Resignation und der Einsamkeit und der Sehnsucht inmitten der Weltsuppe der immergleichen ideologischen Mobilmachung. Florian verehrt Bukowski, mit dem er die Hingabe an die klassische Musik teilt, er verehrt Céline (wie unser gemeinsamer Freund Piwitt, sei gegrüßt, Hermann!), er verehrt die Tagebücher von Ernst Jünger, die jeder Linke, der etwas auf die Wahrheit und auf die Skepsis hält, lesen sollte. Das habe ich jetzt hingetippt? Lobo, steh mir bei!

Gedichte werden gemacht, erzeugt, hergestellt, anders als die Freundschaft und die Liebe (das griechische Wort „poeisis“ bedeutet ebendies). Und wenn man’s kann, kommt so etwas heraus: „Schönheit war / einmal; die Wolken hängen / tief, Gelächter in / bröckelndem Gemäuer.“ Oder: „Sie saß da / drüben auf der / Couch.“

Florian Günther ist der Clint Eastwood der deutschen Gegenwartsliteratur; nicht der Eastwood von Coogans großer Bluff, Dirty Harry und Der Mann, der niemals aufgibt (obschon auch die treffliche Filme sind), sondern von Die Brücken am Fluß, Million Dollar Baby und The Mule. Und wäre er, der Florian, ein Arschloch, ich hätte in diesem Text kein Komma an einer anderen Stelle plaziert.

 

Jürgen Roth (junge Welt, 10/11 Juni 2023.