VORWORT

Auch wenn das Wort Kneipe erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden ist: Das Phänomen Kneipe erfreute sich schon im alten Rom großer Beliebtheit, nur dass man damals noch von Tabernasprach. Aber mal ganz abgesehen davon, ob man sie nun Kneipen, Tavernen, Spelunken, Kaschemmen, Bars oder anders nennt: Sie erfüllen seit jeher eine wichtige soziale Funktion.

Nicht umsonst wurden sie in unzähligen Liedern besungen wie kaum ein anderer Ort zwischenmenschlicher Interaktion. In den Songs von Tom Waits ist die Kneipe ein Dauergast, ein Ort für a rendezvous of strangers around the coffee urn tonight // All the gypsy hacks, the insomniacs.

Hildegard Knef proklamierte: Ich brauch' meine Straße // die muffige Kneipe // ich brauch' meine Beichten // beim Nachtklubportier – dafür verzichte sie gerne auf Venedig oder sternklare Vollmondnächte rechts vom Suezkanal.

Einer der größten Erfolge Peter Alexanders war dessen Version von Die kleine Kneipe, in der er sang: Da wo das Leben noch lebenswert ist // Dort in der Kneipe in unserer Straße // Da fragt dich keiner, was du hast oder bist.

Und Billy Joel bringt die soziale Funktion der Kneipe auf die eingängige Formel: And the waitress is practicing politics // As the businessmen slowly get stoned // Yes, they're sharing a drink they call loneliness // But it's better than drinkin' alone mit der Conclusio To forget about life for a while.

Die Reihe prominenter musikalischer Hommagen an das zweitälteste Gewerbe der Welt ließe sich unendlich fortsetzen, doch schon an diesen wenigen Beispielen zeigen sich die wesentlichen Merkmale dieses rund 4000 Jahre alten Soziotops: Kneipen, das sind Sehnsuchtsorte für Tagträumer und Nachtschwärmer, Fluchtorte, an denen man gemeinsam einsam sein kann, überhaupt: Orte und Nicht-Orte zugleich. Warteräume, in denen man auf nichts wartet als auf das nächste Bier oder den nächsten Fick, Transiträume, in denen man die Zeit vom einen zum nächsten Alltag überbrückt, Schutzräume, in denen das Schlachtfeld des Lebens temporär in weite Ferne rückt, Geburtsräume für Utopien und Dystopien, Paralleluniversen, die von der restlichen Welt entkoppelt zu sein scheinen, Panoptiken der Kauzigkeit mit genügend Raum fürs Sosein.

Menschen, die sich auf dieselbe Kneipe einigen können, sie zu ihrem gemeinsamen Lebensraum machen, wachsen zu einem (zumindest temporären) Sozialgefüge zusammen, ohne zwangsläufig viel übereinander zu wissen. Sie werden zu einer Gemeinschaft Verschworener.

Diese geschlossene Sphäre, die immer auch eine Intimsphäre ist, verändert sich unweigerlich, sobald ein Fremder in sie eindringt, um als Außenstehender zu beobachten, zu dokumentieren, zu fotografieren. Das macht es fast unmöglich ein authentisches, unverfälschtes Bild des sozialen Raumes Kneipe einzufangen und wiederzugeben. Florian Günther ist genau das gelungen. Weil er eben kein Außenstehender, kein Fremder ist. Er ist teilnehmender Beobachter, oder, wie Hubert Fichte es nannte, poetischer Anthropologe.

Seit gut zehn Jahren portraitiert er Punks, Hausmeister, Pflegekräfte, Müllwerker, Kassiererinnen, Fahrradkuriere, Klempner, Maurer, Huren, Polizisten – eben Menschen in Berliner Eckkneipen. Er darf ganz nah ran an das richtige Leben im falschen. Weil er einer von ihnen ist. Weil er – wenn auch als Solitär (H. P. Piwitt) – unter ihnen lebt. Weil er sich mit seinem Gegenüber auseinandersetzt und ihm auf Augenhöhe begegnet. Weil er eine Atmosphäre der Vertrautheit schafft, die seine Bilder durchdringen. Das spürt der Betrachter. Hier wird kein Bauch eingezogen, kein Dreck aus dem Gesicht gewischt, kein Fleck aus der Hose gerubbelt und kein Kajalstrich nachgezogen, bevor Günther auf den Auslöser drückt. Und auch im Nachhinein retouchiert er nicht am wahren Leben rum. Das haben seine Bilder mit seinen Gedichten gemeinsam: Da wird nichts beschönigt oder vorenthalten, da gibt es immer nur Leben ohne Wenn und Aber, volle Breitseite. Da wird zahnlos gelächelt und mit glasigen Augen gezwinkert, wehmütig das Glas erhoben und trotzig Haltung angenommen. Hier geht es nicht um das Wahre, Schöne, Gute sondern um das Schöne im Wahren, und das ist gut so, auch wenn sich unter den Abgelichteten kein einziger findet, den das Leben nicht gezeichnet hätte. Doch durch Florian Günthers Augen wirken sie alle wie Könige. Eckkneipenkönige. Selbst wenn sie nicht mehr haben, als genug Zeit zu verlieren.

 

Miriam Spies